Wechselvolle Geschichte:

Ein Jahrhundert genossenschaftliches Wohnen in Halberstadt

Zum Ende des 19. Jahrhundert gab es ein Umdenken im Bürgertum und fortschrittliche Zeitgenossen entwickelten Ideen für erste Baugenossenschaften. Ziel war die Beendigung des Wohnungselends der damaligen Zeit. Mit dem Inkrafttreten des ersten Genossenschaftsgesetzes am 1. Mai 1889, welches auch heute noch gültig ist, wurden die Voraussetzungen für den Zusammenschluss in Genossenschaften geschaffen – die Grundlage für den Bau und die Nutzung von billigem und gesundem Wohnraum für weniger gutsituierte Familien.

Die erste Gründung einer Genossenschaft in Halberstadt ist im Jahr 1912 verbrieft. Die „Halberstädter Spar-Bau-Genossenschaft mbH“ gibt sich am 10.Juli eine Satzung. In der Folgezeit gründen sich weitere Genossenschaften, organisiert und getragen von den Gewerkschaften. Zu ihnen gehören unter anderem die Bauarbeiter-Bau-Genossenschaft „Selbsthilfe“ Halberstadt, die Halberstädter Bauvereinigung für Beamte und Angestellte und die Kriegs-Wohnungsgenossenschaft. Die meisten in dieser Zeit begründeten Genossenschaften überlebten diese schwierigen Zeiten jedoch nicht.

Die am 31.07.1921 gegründete „HeimstättenBaugenossenschaft Halberstadt“ übersteht die ökonomische Trostlosigkeit dieser Krisenjahre allerdings. Sie gilt heute als der Ursprung der heutigen WGH eG. Für gute Startbedingungen sorgte ein Beschluss des Magistrats, der die Siedlungsbauten mit einem Darlehen von 600.00 Reichsmark unterstützte. Zum großen Erfolg der Anfangsjahre trugen unter anderem die damaligen Vorstände Wilhelm Trautewein und Arthur Kühlewind bei. Bald kann die „Heimstätten-Baugenossenschaft“ erste konkrete Ergebnisse vorweisen: Nur drei Jahre nach der Gründung waren bereits 76 Heimstätten bezugsfertig.

Inmitten der Weltwirtschaftskrise, am 31. August 1931, berichtete die Halberstädter Zeitung, dass in den ersten zehn Jahren seit Bestehen bereits 243 Heimstätten erschaffen wurden. Diese Heimstätten waren dabei mehr als nur einfach bezahlbarer Wohnraum. Die Genossenschaft stellte den Mietern gleichzeitig Gartenland zur eigenen Nutzung bereit, so dass auch eine eingeschränkte Selbstversorgung möglich wurde. 1930 wurden auf Beschluss des Vorstandes jegliche Bautätigkeit eingestellt. Dies war wegen der Weltwirtschaftskrise notwendig, um das finanzielle Risiko möglichst gering zu halten. Mit der Machtergreifung der Nazis 1933 mussten sich auch die Genossenschaften den nationalsozialistischen Zielen unterordnen. Deutschland steuerte auf einen Krieg zu, die Folge waren hohe Ausgaben für die Rüstungsindustrie und dadurch auch das Überwinden der Wirtschaftskrise. Von 1935 bis 1938 errichtete die Heimstätten-Baugenossenschaft 23 neue Wohnhäuser. Im Juni 1935 kam es zur Gründung der Kleinsiedlungsgenossenschaft Halberstadt. Sie ist der Vorläufer der Gemeinnützigen Wohnungsgenossenschaft Nord, welche dann 1978 mit der AWG „Thomas Müntzer“ fusionierte und damit auch zu den Vorfahren der heutigen WGH zählt. In der heutigen Sargstedter Siedlung wurden bereits bis 1936 insgesamt 50 Kleinsiedlerstellen bezogen, für weitere 100 Siedlerstellen am Stadtrand ist die Genossenschaft der Bauträger. 1937 scheidet Wilhelm Trautewein aus der Unternehmensführung aus, 1941 stirbt der Halberstädter Genossenschaftsvater. Jegliche Bautätigkeiten erliegen mit Beginn des zweiten Weltkrieges 1939. In den Vorständen und Aufsichtsräten gibt es ständige Wechsel.

Ein Schicksalstag für Halberstadt und seine Bewohner ist der 8. April 1945. An diesem Tag wurde die historische Innenstadt zu 80 Prozent vernichtet, 2.500 Menschen verlieren ihr Leben. Die Folgen der insgesamt zehn Luftangriffe zu beseitigen, dauert bis heute an. Allein das Beräumen der Schuttberge nahm gut 15 Jahre in Anspruch. Nach der Befreiung änderten auch die Genossenschaften ihre Satzungen wieder, jegliche nationalsozialistische Spuren wurden aus den Inhalten gestrichen, die Nazi-Vorstände vor die Tür gesetzt. Bereits im Sommer 1945 rufen die Kleinsiedlungs- und die Heimstättengenossenschaft ihre Mitglieder zu Generalversammlungen zusammen. Die Kleinsiedlungsgenossenschaft hat die Kriegsjahre glimpflich überstanden. Bei der Heimstättengenossenschaft sind fast alle Häuser beschädigt, elf wurde total zerstört. Die Genossenschaftskonten sind gesperrt und doch mehren sich schon 1946 erste Signale des Neubeginns. Etwa ein Drittel der Mitglieder hat keinen Wohnraum mehr und so ist 1949 der Bezug des ersten Nachkriegsneubaus in der Richard-Wagner-Straße ein optimistisches Zeichen.

Die DDR-Regierung weiß um die Wohnungsnot und schafft 1953 die gesetzlichen Grundlagen für die Gründung von Arbeiter-Wohnungsbau-Genossenschaften (AWG). Die Mitarbeiter des Reichsbahn-Ausbesserungs-Werkes und des VEB Holzindustrie gründen gemeinsam am 10. Juni 1954 die Arbeiter-Wohnungsbau-Genossenschaft „Thomas Müntzer“, deren erster Vorsitzender H. Ebeling wird. Trotz großem Interesse sind es am 10. Juli nur wenige Enthusiasten, die die Gründung realisieren. Jedes Mitglied muss 10 Mark Einschreibegebühr zahlen sowie einmalig 500 Mark – diese Verpflichtung lässt viele Kollegen verzichten.

Nach den Statuten der Genossenschaft ist jedes Mitglied entsprechend seinen physischen Fähigkeiten verpflichtet, Arbeitsleistungen zu erbringen, das können zum Beispiel auch Abbruch- und Aufräumarbeiten sein.

Die AWG „Thomas Müntzer“ ist in den 50er und 60er Jahren maßgeblich am Wiederaufbau der Innenstadt beteiligt. Bereits am 13. Juni 1954, nur drei Tage nach Gründung der AWG, wird der Grundstein für ein Wohnhaus in der Thomas-Müntzer-Straße 71-73 gelegt. Schon bald entstehen weitere Genossenschaftshäuser.

Wurden anfangs traditionelle Bauverfahren genutzt, so wird schon Ende 1958 ein neuartiges Montageverfahren für den Bau eines Mehrfamilienhauses genutzt. Bauträger war die AWG „Thomas Müntzer“. 1959 werden im Wert von 5 Millionen Mark Wohnungen in der Walther-Rathenau-Straße, der Steinstraße, Dr. Crohn- und Quedlinburger-Straße gebaut. 280 neue Wohnungen sollen am Breiten Weg entstehen, bis 1965 sind dafür 100 Millionen Mark eingeplant.

Die Genossenschaft entwickelt sich kontinuierlich und auch das Interesse an einer Mitgliedschaft seitens der Bürger wächst. 950 Mitglieder so sind es 1959, bis 1962 wächst die Zahl der Mitglieder auf 2016 an. Die Marke von 3000 AWG-Mitgliedern wird bis 1970 überschritten.

In bescheideneren Maßen baut auch die Heimstättengenossenschaft, unter anderem in der Oehlerstraße. Doch trotz der regen Bautätigkeiten bleibt Wohnraum bis in die siebziger Jahre Mangelware. Laut Beschluss der DDR -Staatsführung 1971 sollen sich bis 1990 für zwei Drittel der Bevölkerung die Wohnverhältnisse entscheidend verbessern. Bauen in neuen Dimensionen ist gefragt und so entstehen auch in Halberstadt sogenannte „Typenbauten“. Im ersten Bauvorhaben, dem „Herrmann-Matern-Ring“, entstehen auf einer Brach -und Ackerfläche insgesamt 544 Wohnungen. Mit dem Bau von Wohnungen im größten Halberstädter Wohngebiet, dem „Wilhelm-Pieck-Ring“, wird im Juli 1975 begonnen. Insgesamt 2100 Wohnen sollen hier gebaut und so die Wohnungsnachfrage in Halberstadt befriedigt werden. Die AWG baut 420 dieser Wohnungen. 465 Wohnungen werden von 1975 bis 1980 im „Clara-Zetkin-Ring“ gebaut. Für den Neubau einer Schule wird, ungeachtet der Proteste aus der Bevölkerung, die Ruine der romanischen Paulskirche gesprengt.

1978 bringt für die AWG „Thomas Müntzer“ wichtige organisatorische Veränderungen. Sie fusioniert mit der Heimstätten-Baugenossenschaft von 1921 und der Gemeinnützigen Wohnungsbaugenossenschaft Nord, welche 1969 aus der 1935 gegründeten Kleinsiedlungsgenossenschaft hervorgegangen war. Weitere zehn Jahre später wird auch die AWG „Frohe Zukunft“ aus Wegeleben integriert. Diese so neuentstandene Körperschaft gilt als unmittelbarer Vorläufer für die heutige „Wohnungsbaugenossenschaft Halberstadt“ eG.

Die AWG „Thomas Müntzer“ kann am 10. Juni 1979 auf 25 Jahre erfolgreiche Arbeit zurückblicken. Sie zählt zu den größten Genossenschaften im Bezirk Magdeburg. Die Planungen für das letzte große Wohngebiet in Halberstadt auf der so genannten „Kuhwiese“ münden in der Grundsteinlegung am 16. März 1983. Bereits im Sommer 1983 beziehen die ersten Familien ihre Neubauwohnung an der Röderhöfer Straße. Insgesamt baut die AWG hier 767 Wohnungen. Als Mitte der 80er Jahr auch für das Stadtzentrum die Bebauung geplant wird, ist die AWG selbstverständlich dabei. Am 8. April 1985 – genau 40 Jahre nach dem Bombardement der Stadt – fällt der Startschuss für die Neugestaltung der Innenstadt.

Am 9. November 1989 fällt die Mauer, die Wiedervereinigung beider deutscher Staaten zu einem Staat ist nun nicht mehr aufzuhalten. Mit der Wiedervereinigung im Oktober 1990 gelten auch für die Arbeit der Genossenschaften andere gesetzliche Grundlagen, alles wird an das bundesdeutsche Rechtssystem angepasst.

 

 

Aus der AWG „Thomas Müntzer“ wird am 18. Oktober 1990 die „Gemeinnützige Wohnungsbaugenossenschaft Halberstadt“ eG – kurz WGH. Sozialverträgliche Nutzungsgebühren und die Betriebskosten-Umlageverordnung bilden ab 1991 die Basis für eine dringend notwendige Modernisierungswelle des Wohnbestandes.

1993 tritt das Altschuldenhilfe-Gesetz in Kraft und lastet den Unternehmen der Wohnungswirtschaft im Osten Deutschlands willkürlich einen Teil der DDR-Staatsschulden auf. Die WGH wird so gezwungen, 15 Prozent ihrer Wohnungen zu veräußern. Zehn Jahre hat sie dafür Zeit. Der WGH gelingt es, rund 1.000 Wohnungen zu verkaufen, ein Drittel an die ehemaligen Mieter – ein Spitzenwert. Am 17. Januar 2002 erlässt die Kreditanstalt für Wiederaufbau der WGH Altschulden in Höhe von 36 Millionen Euro.

Nach der deutschen Vereinigung setzte besonders an den Stadträndern Halberstadts ein Bauboom ein. Der genehmigte Neubau von Wohnungen ließ die rückläufige Bevölkerungszahl jedoch vollkommen außer Acht. Die ungesunde Entwicklung „Mehr Wohnungen, aber weniger Einwohner“ führt seit der Jahrtausendwende zu schweren Verwerfungen auf dem Wohnungsmarkt. In dieser Situation übernahm die WGH im Sinne ihre Mitglieder die Verantwortung für einen langfristig wirtschaftlich stabilen Wohnungsmarkt in Halberstadt. Im Rahmen des Programms „Stadtumbau OST“ baute die WGH insgesamt 1.671 Wohnungen zurück. Die Ziele des nationalen Klimaschutzprogramms der Bundesregierung zur Reduzierung von Schadstoffen im Sektor „Haushalt“ fließen seit Jahren in das wertorientierte Bestandsmanagement der WGH ein. Es werden die Voraussetzungen für die zukünftige Modernisierungs- und Neubaustrategie vor allem unter energetischen Gesichtspunkten geschaffen.

Neubauprojekte wie „DomiZiel“, die Wohnanlagen „Kirschgarten“, „An den Linden“ und „Am Kulk“ werden barrierearm und ökologisch nachhaltig gebaut. Für die WGH ist neben Umwelt- und Klimaschutz auch der „ökologische Stadtumbau“ vorrangig – alles mit dem Ziel, für die Mieter Preissteigerungen bei den herkömmlichen Energieträgern abzufedern. Insgesamt wurden so nach der Wiedervereinigung 271 Wohnungen neu gebaut.

Den Energiebedarf der Gebäude zu verringern, ist nicht nur das Ziel einer anspruchsvollen Klimaschutzpolitik, auch liegt diese Reduzierung natürlich grundsätzlich auch im Interesse der Mitglieder der WGH. Insgesamt sind 63 solarthermische Anlagen mit einer installierten Kollektorleistung von 2.172 kW installiert worden. Damit erzeugt die WGH alternative Wärme-Energie, die jährlich den Bezug von 169.000 m³ Erdgas und 677.000 kWh Fernwärme erspart. 62 Photovoltaikanlagen mit einer Gesamtleistung von 1,4 MWp erzeugen zudem umweltfreundlich Strom. Die Modul- bzw. Kollektorfläche dieser Solaranlagen entspricht insgesamt der Größe von 1,7 Fußballfeldern. Eine energieeffiziente Gebäudehülle ist der beste Weg, um Wärmeverluste zu vermeiden und den Energieverbrauch zu senken. Bereits 75 Prozent des WGH Wohnungsbestandes verfügen deshalb über ein Wärmedämmverbundsystem (WDVS).

Ein weiteres Ziel ist die Förderung des selbstbestimmten Wohnens bis ins hohe Alter. „Wir passen die Gebäude an die Bedürfnisse unserer älteren Mitglieder an und öffnen ihnen damit den Weg für ein langes Leben in der eigenen Wohnung und in der vertrauten Nachbarschaft“, erklärt WGH-Vorstand Frank Adelsberger. Die Gesamtquote der barrierereduzierten/-frei erreichbaren Wohnungen liegt inzwischen bei 60 Prozent. Insgesamt wurden hierzu unter anderem 190 Aufzüge errichtet.

Schwerpunkt der Investitionen werden weiterhin ein im Hinblick auf die zukünftige demografische und ökologische Bestandsentwicklung angepasstes wohnungswirtschaftliches Gesamtkonzept sein, welches eine zielgruppenorientierte Bestandsentwicklung ermöglicht und dem Förderauftrag entspricht.

Zum Schluss noch eine Jubiläums-Überraschung: Zum 100-jährigen wird der Vertreterversammlung vorgeschlagen in diesem Jahr eine „Jubiläums-Dividende“ in Höhe von 4 Prozent auf die dividendenberechtigten Geschäftsguthaben auszuschütten.

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